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Dienstag, 07.12.2004

"Nein!" heißt "Nein!" - auch und erst recht vor dem Traualtar

Ein Herbstnachmittag in Berlin, vor den Fenstern des Cafés fallen langsam die bunten Blätter auf die Erde. Breitbeinig setzt sie sich an den Tisch - wie ein "Kerl". Ihr Gegenüber ist ihr unangenehm und sie zeigt es auch auf eine subtile Art. Als sie merkt, dass ihre bisherige Haltung keine Wirkung auf ihn hat, erweitert sie ihr Repertoire: sie beginnt sich zu kratzen. Erst nur am Kopf, später an weiteren Körperstellen. Sie spricht im Rapperstil, mit fahrigen Bewegungen und "Ghetto"-Deutsch. Ihr Gegenüber scheint weiterhin begeistert von ihr zu sein. Sie dagegen findet den Freund, den er mitbringen durfte - ihr wurde eine Begleitung versagt - wesentlich attraktiver. Kurzzeitig überlegt sie, ob sie ihre Strategie nicht ändern soll. Wie wäre es, wenn sie nicht "ihre" Verabredung, sondern den Begleiter anflirten würde? Was wäre, wenn sie sich nach dem obligatorischen Kaffee nicht eine Cola, sondern einen alkoholischen Drink bestellen würde? Aber nein, so weit möchte sie dann doch nicht gehen. Die "Ehre" der Familie stünde auf dem Spiel. Sie beschließt, weiterhin möglichst unattraktiv und unweiblich zu erscheinen. Er soll sie nicht wollen! Aber er will sie weiterhin.
Ihr Vater hatte das Treffen arrangiert. Und ihn möchte sie nicht enttäuschen. Eine Woche später erfährt sie, dass "ihre" Verabredung ein weiteres Kennenlern-Treffen wünscht. Also wird sie sich mit ihrem Vater auseinander setzen müssen. Sie will nicht: kein weiteres Treffen mit einem ihr unangenehmen Menschen, sie will ihn nicht mehr sehen - anfassen oder gar küssen lassen möchte sie sich schon gar nicht. Und sie hat Glück, sie findet bei ihrem Vater Gehör. Sie wird nie wieder mit dem jungen Mann an einem Tisch sitzen müssen.
Eine Hochzeit sollte hier angebahnt werden. Traditionen, die den meisten von uns fremd sind. Die Töchter sollen gut versorgt sein, daher halten Eltern von jungen Mädchen und Frauen Ausschau nach einem passenden Ehemann aus einer "guten" Familie. Er sollte einen Beruf haben, denn die Tochter soll später finanziell abgesichert sein. Die meisten achten auch auf den allgemeinen Ruf des zukünftigen Bräutigams: Ist er bereits in Konflikt mit dem Gesetz gekommen? Besteht die Gefahr, dass die Tochter später häuslicher Gewalt ausgesetzt ist? Bei arrangierten Hochzeiten haben die Töchter noch ein Mitspracherecht. Sagt sie "Nein!", dann muss sie die von den Eltern gewünschte Ehe nicht eingehen.
Anders bei Zwangsverheiratungen: hier haben die Mädchen (und oft auch die jungen Männer) keinerlei Mitspracherecht. Die Ehe wird geschlossen und vollzogen, weil sich zwei Elternpaare über die Wünsche ihrer Kinder hinweg setzen. Mädchen und junge Frauen trifft dies härter als männliche Jugendliche und junge Männer, denen die jeweilige kulturelle Gemeinschaft immer noch mehr Freiräume zugesteht als Frauen. Zwangsverheiratete Frauen erleben psychische und physische Gewalt - durch ihre Ehemänner und durch ihre Familie.
Zwangsverheiratung verstößt gegen Artikel 16 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, in dem es heißt: "Die Ehe darf nur aufgrund der freien und vollen Willenseinigung der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden." Im Juni 2001 hat eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen Zwangsverheiratung als moderne Form der Sklaverei geächtet. Dennoch sind jährlich etwa eine Million Frauen weltweit davon betroffen. Ihre Familien zwingen sie in eine Ehe mit einem Menschen, den sie oftmals  bei der Eheschließung zum ersten Mal sehen. Dabei betrifft das - immer noch tabuisierte - Thema Zwangsverheiratung keinesfalls nur Frauen aus bestimmten Kulturkreisen: es ist teilweise im christlich-orthodoxen Griechenland ebenso "üblich" wie in einigen islamischen Ländern oder im hinduistischen Indien. Es betrifft Mädchen in den frühen Teenagerjahren genauso wie Frauen um die 30. Und es zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten, denn es sind nicht nur die armen und ungebildeten Familien, die diese Traditionen weiterpflegen. Vor allem findet Zwangsverheiratung nicht nur in den Heimatländern statt - es findet auch hier statt, in der Bundesrepublik, in Berlin, vielleicht gleich nebenan, im Jahr 2004.
In den letzten Jahren haben Frauenrechtsorganisationen wie Terre des Femmes und Kriseneinrichtungen für Migrantinnen wie Papatya die Öffentlichkeit mit einzelnen Aktionen und mit Informationsbroschüren vermehrt auf diese Thematik aufmerksam gemacht. Oft wissen Betroffene nicht, wohin sie sich wenden können und oft wissen die Personen, an die sich die Frauen wenden ebenfalls nicht, wo frau professionelle Hilfe und juristischen Beistand bekommt.
Für alle Interessierten, für alle direkt oder indirekt Betroffenen haben wir daher die wichtigsten Beratungsstellen in einem Info-Kasten zusammengestellt.
 
Und zum Schluss sei noch eine persönliche Bemerkung erlaubt: Bei der Internetrecherche zum Thema musste ich feststellen, dass offensichtlich mit allem, was möglich ist Produktwerbung betrieben wird - viele Hochzeitsportale werben auch mit "Zwangsverheiratung" für ihre Seiten. Allein unter den ersten fünfundzwanzig Suchergebnissen finden sich vier Portale für "den schönsten Tag in Ihrem Leben". Beim Hochzeitsgeschäft ist Zwangsverheiratung eben kein Tabuthema.

Hier bekommen Betroffene Hilfe:


BIG e.V. Berliner Initiative gegen Gewalt gegen Frauen - Koordinationsstelle des Berliner Interventionsprojektes gegen häusliche Gewalt
Postfach 61 04 35 10927 Berlin
Tel. 61 10 300
Zeiten: täglich 9-24 Uhr (auch an Wochenenden und Feiertagen)
Sprachen: Fast alle Sprachen möglich; Verständigung erfolgt mit Hilfe von Sprachmittlern oder z.T. durch Konferenzschaltung mit Sprachmittlern. Über BIG kann die Vermittlung an die Berliner Frauenhäuser erfolgen
 
Jugendnotdienst
Tel. 34 999 34
Zeiten: rund um die Uhr
Sprachen: Türkisch, Finnisch, Russisch, Englisch
 
PAPATYA- Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen
c/o Jugendnotdienst (s.o.)
Tel. über Jugendnotdienst : 34 999 34 oder Notruf: 0178/ 74 74 812
Zeiten: rund um die Uhr
Sprachen: Türkisch, Kurdisch, Persisch , Englisch, Französisch, Niederländisch
info@papatya.org
 
Interkulturelles Frauenhaus
Postfach 370542 14135 Berlin
Tel. 8010 8050 Telefonische Beratung Mo-Fr 9-18 Uhr
 
Interkulturelle Beratungsstelle:
Tel. 8019 5980, Telefonische Beratung Di 10-13 Uhr, Do 12-15 Uhr
 
Interkulturelles Wohnprojekt
Tel. 8010 8010/11 Telefonische Beratung Do 11-14 Uhr
Sprachen: türkisch, litauisch, russisch, spanisch, armenisch, persisch, jugoslawisch, englisch, französisch
Interkulturelleinitiative@t-online.de
 
Mädchennotdienst Kreuzberg
Tel. 21003999
Zeiten: rund um die Uhr
Sprachen: Türkisch, Persisch, Aserbaidschanisch, Russisch, Englisch
k-berg@maedchennotdienst.de
 
Mädchennotdienst Lichtenberg
Zeiten: rund um die Uhr
Tel. 5505 - 1900
Sprachen: Ungarisch, Spanisch, Englisch
l-berg@maedchennotdienst.de
 
Autonomes Mädchenhaus
Zeiten: rund um die Uhr
Tel. 792 04 04
info@maedchenhaus-berlin.de
 
Elisi Evi        
Tel. 618 73 83
Sprachen: Türkisch
Elisi-evi@gmx.de
 
Al Nadi
 Tel. 852 06 02
Sprachen: Arabisch
Alnadi@nachbarschaftsheim-schoeneberg.de
 
Ban Ying e.V.
Tel. 440 63 73/74
Sprachen: Thai, Tagalog, Hindi, Urdu, Englisch
Ban-ying@ipn.de
 
Jugend- und Frauenladen
Tel. 3222033
Sprachen: Türkisch, Kurdisch, Englisch, Arabisch, Spanisch
 
Frauenberatung BORA
Tel. 92 74 707
Zeiten: Di: 14 - 18 Uhr, Do: 10 - 14 Uhr und nach Vereinbarung
Sprachen: Englisch, Polnisch, Russisch, Persisch, Spanisch oder über Sprachmittler
 
Frauenberatung Tara
Tel. 78718340
Zeiten: Mo: 12-17 Uhr, Di: 10-14 Uhr, Mi: 11-16, Do: 9-11 nur tel.
Sprachen: Englisch, Türkisch, Persisch
 
Beratungsstelle für Mädchen und junge Frauen
Tel: 7842687
Zeiten: Mo - Do: 15-17 Uhr, Mi: 17-19 Uhr, Fr: 10-13 Uhr
 
Frauenraum
 Tel: 4484528
 
Ausländerbeauftragte des Senats von Berlin
Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales
Potsdamer Str. 65 10785 Berlin
Tel. 9017 - 2351

foto: Madonna MädchenKult.Ur e.V.; text: SPfau