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Donnerstag, 24.06.2004

Zusammenleben mit Muslimen vor Ort

Wir alle wissen – gerade in einem Stadtteil wie dem Reuter-Kiez – von den Schwierigkeiten des Zusammenlebens von Deutschen und MigrantInnen. Ängste haben mit Sicherheit beide Seiten: Die deutsche Mehrheitsbevölkerung vor der Entwicklung einer Parallelgesellschaft, die muslimische Seite vor dem Verlust der Identität. Genau diese Problematik griff die Podiumsdiskussion, die am Dienstagabend in der St. Christophorus-Gemeinde stattfand, auf. Podiumsteilnehmer/innen waren: der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban, Frau Emel Algan vom Islamischen Frauenverein, die ehemalige Ausländerbeauftragte des Landes Berlin Frau Barbara John, der Geschäftsführer des Vereins Inssan Herr Chaban Salih und Frau Susanna Kahlefeld vom Aufruf Neuköllner Frauen für ein Kopftuchverbot und  Ausländerpolitische Sprecherin der Neuköllner Bündnisgrünen. Moderiert wurde die Diskussion von Lissy Eichert und Hans-Joachim Ditz von der St. Christophorus-Gemeinde. Fast 80 Menschen unterschiedlicher  Religionen waren gekommen, um zuzuhören und mitzudiskutieren.
Und man stieg gleich mit einem heiklen Thema in die Diskussion ein: Kopftuchverbot – ja oder nein? Schon hier zeigte sich, wie vielschichtig die Problematik ist: Für die einen ist das Kopftuch ein Zeichen der freien Willensentscheidung und spricht damit eher für eine Emanzipation der Frau. Für die anderen ist es das Gegenteil, nämlich das Bedecken des Körpers, um Anständigkeit zu präsentieren, womit die Frau zulässt, dass sie auf ihre Sexualität und ihre Körperlichkeit reduziert wird. Es war nicht ganz klar, auf welcher Ebene man diskutierte – religiös? Alltägliche Erfahrungen? Schulalltag? Kulturell? Feministisch? Klar wurde jedoch, dass diese Thematik hochgradig emotional besetzt ist. Herr Salih machte deutlich, dass sich für ihn als Moslem die Anständigkeit von Frauen nicht am Tragen eines Kopftuches festmachen ließe. Der Alltag im Reuter-Kiez sieht jedoch gerade im Sommer für Frauen, die leichtere Kleidung bevorzugen, eher so aus, dass sie nicht nur mit Blicken sondern zum Teil auch mit plumper Anmache und sogar Beschimpfungen zu rechnen haben – und dies vor allem von muslimischen Männern und männlichen Jugendlichen. In wie weit das Kopftuchtragen zur Identitätserhaltung der Migrantinnen beiträgt, wurde aus dem Publikum mit dem Hinweis auf den Alltag in der heutigen Türkei hinterfragt: Dort sieht man kaum Frauen, die Kopfbedeckung tragen. In öffentlichen Gebäuden wie Behörden, Schulen und Universität ist das Kopftuch sogar verboten. Und wer schon einmal in der Türkei war, der weiß, dass auch im Alltag der meisten Frauen dort das Kopftuch kaum eine Rolle spielt. Niemand käme auf die Idee, deshalb die Gläubigkeit der dort lebenden Türkinnen in Frage zu stellen.
Danach wurden die Ängste bezüglich des Entstehens einer Parallelgesellschaft thematisiert. Anzeichen dafür seien zum einen Supermärkte, Männercafés etc., die es den Migranten erlauben, auch ohne die deutsche Sprache erlernen zu müssen, den Alltag zu bewältigen. Zum anderen werden Konflikte zwischen Familien oder Clans unter sich geregelt, die Polizei wird nicht mehr eingeschaltet und es entstehe ein rechtsfreier Raum. Hier schwankten die Meinungen zwischen "in anderen Ländern ist die Situation viel schlimmer", so Frau John, und "die Parallelgesellschaft ist eine Realität und das vermehrte Kopftuchtragen ein Zeichen dafür", wie Herr Gadban bemerkte. Aus dem Publikum kam von Gilles Duham, Quartiersmanager im Rollbergviertel und ebenfalls Migrant, der Hinweis, dass man als Zuwanderer die Regeln des Gastlandes akzeptieren müsse. Ob moslemische Schulkinder im Ramadan 40 freie Tage bekämen, sei für ihn keine Diskussionsmasse. Die meisten Moscheen seien in vielen Punkten nicht kooperativ. Seiner Meinung nach, sei die Gesellschaft in den 90er Jahren gekippt, Stichworte seien hier Wirtschaft und Bildung. Dem schloss sich eine weitere Person an, denn Bildung sei wichtig, damit Glaube nicht zur Flucht vor einer Identitätskrise werden kann.
Weiteres Thema war der geplante Moscheeneubau in der Pflügerstraße. Hier gab es einen verbalen Schlagabtausch wegen der vom Verfassungsschutz vermuteten Verbindung zwischen der Muslimbrüderschaft zu dem Verein Inssan, der die neue Moschee bauen möchte. Frau Algan äußerte den Wunsch, dass Moscheen allgemein als Begegnungsstätte dienen sollten. Und Moscheen gäbe es mittlerweile genug. Wer beten möchte, könne dies auch zuhause. Als Moslems in dieser Gesellschaft trügen sie soziale Verantwortung, daher plädierte sie dafür, zuerst die ausgelösten Irritationen zu beseitigen, bevor man neue Moscheen baue oder plane.
Die Diskussionsveranstaltung war wichtig und richtig, brachte sie doch vieles zur Sprache, was die Menschen im Kiez beschäftigt. Allerdings war sie auch so vielschichtig, dass sich viele BesucherInnen eine Fortsetzung wünschen.

text: SPfau