Suche

Newsletter bestellen für

Top Themen

Freitag, 23.07.2004

Vor 10 Jahren im Reuterkiez: Mieter zahlreicher Häuser kämpfen erfolgreich gegen Sekten-Spekulanten

 
Es begann eines schönen Frühlingsmorgens im Jahr 1994: Durch unangekündigte Bauarbeiten wurden wir Bewohner der Hobrechtstr. 26/27 darauf aufmerksam, dass unser sanierungs-bedürftiges Mietshaus von einer Tarnfirma aus dem Umkreis der sogenannten Scientology Church gekauft worden war, um es in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Niemand hatte uns Mieter vom Eigentümerwechsel informiert und das war vermutlich Absicht, denn ganz in der Nähe gab es schon mehrere Hausgemeinschaften, die sich mit Transparenten an den Balkonen gegen die Scientology-Umwandler wehrten. Der Rechtsweg, Mietshäuser in Eigentumswohnungen aufzuteilen und diese dann mit gutem Gewinn einzeln zu verkaufen ‑ vorausgesetzt, die Mieter ließen sich einschüchtern und vertreiben, war kurze Zeit zuvor vereinfacht worden. Die Mieterberaterin Ursel Dyckhoff, schätzte damals, dass Umwandlung eine der Haupteinnahmequellen der deutschen Scientologen war, die dazu ein verwirrendes Netz von Immobilienfirmen aufgebaut hatten. Ein beachtlicher Teil des Geschäftes mit Altbau-Eigentumswohnungen wurde von der Sekte kontrolliert. Allein in der Hobrechtstraße hatten die Scientology nahen Firmen mindestens vier Häuser aufgekauft. Neben der Angst um unsere Wohnungen hatten wir es nun auch mit einer internationalen Organisation zu tun, die sich als Religion ausgab und von Kennern als geldgierig, totalitär und kriminell beschrieben wurde. Sabine F., eine Betroffene, erfuhr damals erst durch eine Demonstration, die unmittelbar an ihrem Haus vorbeiging, dass Scientologen ihr Haus gekauft hatten. Auch sie fürchtete, ihre Wohnung zu verlieren. Und wie geht es ihr heute? Sabine muss fast lachen: "Es ist schon eigenartig. Erst hat mich mein neuer Eigentümer ständig terrorisiert mit unverschämten Briefen und auch nächtlichen Anrufen. Dann haben wir mehrere Prozesse, ich glaube es waren sechs, gegen ihn gewonnen. Schließlich erfuhr ich, dass die Bank unsere Wohnung zwangsversteigern wollte. Der Eigentümer war untergetaucht, hatte seine Raten nicht bezahlt. Seit vier Jahren zahlen wir keine Miete mehr!"

Die Sekten-Makler hatten damals natürlich nicht mit dem rebellischen Geist der Neuköllner gerechnet ... Die scientologischen "Mieterberater" versuchten zunächst, uns unsere eigenen Wohnungen aufzuschwatzen. Doch für uns Mieter wäre das ein schlechtes Geschäft gewesen, denn wir hatten billige Wohnungen. Wir hielten also Hausversammlungen ab und informierten uns über unsere Rechte. Viele ließen niemanden zur Besichtigung in die Wohnung und hängten freche Transparente aus dem Fenster. Herumirrende Kaufinteressenten wurden über Scientology im Allgemeinen und die schlechte Bausubstanz im Besonderen aufgeklärt. Einige Mieter riefen einfach die Polizei, wenn wieder ein Verkäufer herumschlich, ohne sich ausweisen zu können. Aus einem Haus in der Sanderstraße wurden die Scientologen von den Balkonen mit Wasser begossen  - simpel aber wirkungsvoll. Betroffene aus ganz Berlin hatten sich bald zusammen geschlossen und mobilisierten die Medien und die Mietervereine. Die Umwandler wehrten sich mit den üblichen Methoden: anonyme Anrufe, Kündigungsschreiben und Versuche, die Mieter gegeneinander aufzuhetzen. Ich selbst bekam eine Strafanzeige wegen angeblicher Sachbeschädigung. Wir Hausbewohner fühlten uns in dieser Zeit rund um die Uhr bedroht und waren manchmal mit den Nerven am Ende. Doch unser Kampf war nicht vergebens: Nach einem halben Jahr war nicht einmal die Hälfte der Wohnungen in unserem Haus verkauft, die Preise fielen, die Verluste der Spekulanten müssen schmerzhaft gewesen sein. Jetzt, zehn Jahre nach der Umwandlung, sind zwar alle Wohnungen verkauft, aber unser Ziel war es auch zu verhindern, dass Scientology woanders ungestört Mieter einschüchtert und vertreibt. Leider haben wir damals auch gemerkt, dass das Problem Umwandlung in der Öffentlichkeit totgeschwiegen und statt dessen Scientology als Sündenbock benutzt wurde. Weil die Kommunen hunderttausende von Wohnungen privatisieren wollten, setzten sie ebenfalls auf Bildung von Wohneigentum. Die Mieter sollten sich dafür über Jahrzehnte verschulden und alle Risiken selbst tragen. Doch manch einer hat sich verrechnet, konnte den Kredit nicht abzahlen und nun lässt die Bank zwangsversteigern. Merke: Umwandlung schafft keine neuen Wohnungen, sondern Unsicherheit für die Mieter, Verschuldung für die Käufer und Profit für andere! Bei Fragen zum Thema Umwandlung hilft der Mieterverein unter der Telefonnummer 22 62 60 weiter. Zu Scientology und anderen Sekten bietet der Sektenbeauftragte der evangelischen Kirche unter der Rufnummer 8 15 70 40 Rat: Im Internet kann man die Webseite der Mieter GEGEN Scientology besuchen: www.mieter-gegen-scientology.de Sehr umfangreiche und gute Infos enthält auch die Webseite: www.xenu.de.
((Kasten))
Scientology - als Religion getarnte Geldmaschine
Scientology behauptet, Religion zu sein und ist seit ihrer Gründung in den 50er Jahren dafür bekannt, vor allem eines anzubeten: Geld, Geld, Geld. Die Anhänger des Science-Fiction-Autors L. Ron Hubbard versuchen seit jeher, mit verschiedenen Tarnorganisationen Einfluss und Ansehen zu gewinnen. Nach dem 11. September 2001 traten sie sogar als "Seelsorger" auf. Und so funktioniert der Psychokonzern: Auf der Straße werben Scientologen z.B. mit einem kostenlosen Psychotest. "Wir nutzen nur 10 Prozent unseres geistigen Potentials!" heißt es darin. Die Auswertung ergibt nach Angaben von Aussteigern stets, dass man zumindest gestört, wenn nicht gar selbstmordgefährdet ist und sofort einen Scientology-Kurs braucht. Wer darauf eingeht, kommt unter Umständen jahrelang nicht mehr von Scientology los. Durch das Versprechen, "die totale geistige Freiheit" zu erlangen, durch ständigen Erfolgsdruck und andere wirksame Psycho-Methoden werden den Anhängern systematisch ihre Kritikfähigkeit und der Bezug zur Wirklichkeit genommen. Der Amerikaner und Sekten-Gründer L. Ron Hubbard (gest. 1986) lebte in dem Wahn, von Psychiatern und Kommunisten verfolgt zu werden. Unter dem Namen "Dianetik" warb er für "Auditing", eine primitive aber teure Therapie mit Hilfe eines Lügendetektors, Ein wahnwitziges und schier unbezahlbares System von Kursen und Lehrmaterialien verspricht den Aufstieg zum fortgeschrittenen Scientologen, dem "Operierenden Thetanen", der angeblich Gedanken lesen und durch Wände gehen könne. Doch noch nie ist jemand ans Ende aller Kurse gelangt. Hubbard setzte eine gigantische Geld- und Unterdrückungsmaschinerie in Gang, die er erst später geschickt als Religion tarnte, um Steuern zu sparen und besser vor Kritikern geschützt zu sein. Durch einen eigenen Geheimdienst werden Kritiker und Aussteiger mit Telefonterror, Rufmordkampagnen und Prozessen überschüttet. Ich selbst habe Menschen kennengelernt, die zunächst ihre Energie und ihr Geld in den Kampf gegen die Sekte steckten, um dann nach jahrelangem Psychokrieg klein beizugeben.

foto & text: AWispler